Hans Christian Andersen
Sämtliche Märchen, 1862
Die Prinzessin auf der Schnecke
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten; aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall war etwas im Wege. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen. Immer war etwas, was nicht so ganz in der Ordnung war. Da kam er denn wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch so gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein schreckliches Gewitter auf; es blitzte und donnerte, der Regen strömte herunter, es war ganz entsetzlich! Da klopfte es an das Stadtthor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tore stand. Aber, o Gott! wie sah die von dem Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herunter; es lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und an den Hacken wieder heraus. Und doch sagte sie, dass sie eine wirkliche Prinzessin sei.
„Ja, das werden wir schon erfahren!“ dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine fette Schnecke auf den Boden der Bettstelle; darauf nahm sie zwanzig Matratzen und legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdunen-Betten oben auf die Matratzen.
Da musste nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe.
„O, erschrecklich schlecht!“ sagte die Prinzessin. „Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, sodass ich ganz braun und blau über meinen ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!“
Nun sahen sie ein, dass es eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdunen-Betten hindurch die fette Schnecke verspürt hatte. So empfindlich konnte Niemand sein, als eine wirkliche Prinzessin.
Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wusste er, dass er eine wirkliche Prinzessin besitze; und die Schnecke kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn Niemand sie gestohlen hat.
Sieh, das war eine wahre Geschichte.
Hans Christian Andersen (1805-1875)
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